Thomas Beyer, Bürgermeister der Hansestadt Wismar, berichtet über seinen jüngsten Besuch in der ukrainischen Partnerstadt Tschornomorsk. Hier sein Reisebericht:
Das dritte Mal bin ich nach Tschornomorsk unterwegs. Diesmal mit Ronny Ortland, Bürgerschaftsmitglied, und mit Benjamin Leers, der Mitarbeiter der Pressestelle ist und die Reise vorbereitete und organisierte.Am 15.12.2024 fliegen wir nach Chișinău, Aufbruch in Wismar 3.00 Uhr, es ist dritter Advent. Auf der Fahrt schaue ich mir die Dokumentation auf Arte "Abgehört" an. Eine "gute" Einstimmung. Abgehörte Telefonate russischer Soldaten mit ihren Frauen und Müttern werden veröffentlicht, dazu Bilder aus den Kriegsgebieten. Die Mütter und Frauen erschüttern mich, was die Soldaten sagen zum Teil auch. Verrohung, Unmenschlichkeit, faschistische Haltung sind die Worte, die mir dazu einfallen.
In Chișinău werden wir abgeholt. Ruslan, stellvertretender Bürgermeister aus Tschornomorsk, er war Oberst in der ukrainischen Armee, und Vassili, Chef des Freizeitparkes in Tschornomorsk, beide kenne ich schon, sind dabei. Herzliche Begrüßung. Sehr herzlich.
Auf der Fahrt zum Hotel hängt jeder seinen Gedanken nach. Ich registriere viele, viele Autos mit ukrainischen Kennzeichen. Moldawien hat viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Bezogen auf die eigene Bevölkerung durchaus mehr als Deutschland. Aber wir brüsten uns ob der einen Million …
Von Müdigkeit bei mir keine Spur. Die Erkältung weggedopt, Adrenalinspiegel: hoch! Im Hotel gibt es die erste Wodkarunde. Gesprächsthema natürlich der Krieg. Und schon da immer wieder diese Dankbarkeit, dass wir gekommen sind. Für den Kleinbus, den wir schon in Tschornomorsk wissen. Für den Generator, die Powerbanks. Aber vor allem, dass wir gekommen sind, immer wieder. Nastrowje. Prost.
Wir fahren mit den Tschornomorskern und dem Bürgermeister von Hîncesti, der moldauischen Partnerstadt von Tschornomorsk, zum größten Weinkeller der Welt in einem Berg, der wohl zu den Ausläufern der Karpaten gehört. Beeindruckend. Beeindruckend vor allem aber auch die Gastfreundschaft. Lange sind wir dort unterwegs. Eine Weinverkostung gehört dazu. Tischreden. Wieder die Dankbarkeit, dass wir da sind und Hîncesti würde auch gern eine deutsche Partnerstadt haben. Wie wäre es denn mit Wismar …
Zurück ins Hotel – Abendessen. Mit den Tschornomorskern und mit den Kollegen aus Hîncesti. Üppig ist der Tisch gedeckt, wie immer. Viele Tischreden gibt es. Aus diesem allen ragt die Erzählung von Vassili heraus. Er hat vor ein paar Wochen in Pokrowsk bei Donezk geholfen, den dortigen Tierpark zu evakuieren. Die Tiere nach Odesa (ukrainische Schreibweise) zu bringen. Er erzählt, wie gesagt, davon. Und er erzählt, wie sehr ihn diese Tage verändert hätten. Er hat dem Krieg ins Antlitz, besser, in die Fratze, geschaut. Er war von der Rolle. Ist es noch. War auch schon vorher irgendwie zu sehen. Er ist verändert. Heute hätte er das erste Mal wieder Wodka getrunken, weil er das Gefühl hat, nur unter Freunden zu sein. Und wie sehr er sich Frieden wünscht.
Dieser Mensch hat immer was versprüht, immer neue Ideen entwickelt für seinen Freizeitpark. Natürlich fürs Business, ja, aber beseelt davon, den Menschen eine Auszeit in seinen Parks zu verschaffen. Er war für mich jemand, oder ist für mich jemand, dem man seinen Optimismus nicht so schnell nehmen kann. Nach seiner Erzählung liegen wir uns in den Armen und wir sind uns einig. Wir wünschen uns alle den Frieden, den er herbeigefleht hat. Die Träne im Knopfloch wischen wir uns beide weg.
Eigentlich ist der Abend voll von vielen anderen emotionalen, aber auch lustigen Momenten. Ja, wir lachen auch viel. Der Krieg ist allenthalben anwesend. Auch im Gespräch mit den Moldauern. Und dann ist da noch Ruslan, der Stellvertreter von Vasyl Huliaev. Wie gesagt, er war Oberst. Ich weiß nicht, was er gesehen hat, ich weiß nur, dass es viel gewesen sein muss. Während des Abends erreichen uns Videos aus Tschornomorsk. Vasyl Huliaev zeigt den Kleinbus, der angekommen ist und bedankt sich. Die Schulleiterin, deren Schülerinnen und Schüler mit dem Bus transportiert werden sollen, spricht im zweiten Video. Sie ist sehr bewegt. Wir auch, als wir die beiden Botschaften sehen.
Überhaupt, mit Vasyl sind wir über den ganzen Tag, auch am folgenden, über Videotelefonie im Kontakt. Er kann nicht dabei sein. Hat einen sehr wichtigen Termin mit Wolodymyr Selenskyj. Das ist natürlich akzeptiert.
Was für ein Tag. Was für ein Abend!
Am nächsten Morgen geht es dann los Richtung Tschornomorsk. Ruslan sagt vor der Abfahrt, wie sehr er den ruhigen Tag gestern und die Nacht genossen hat. Und wir wissen alle, was er meint. Kein Alarm. Keine Bedrohung …
Noch in Chișinău, die Stadt ist ziemlich groß, halten wir plötzlich. Ruslan ist für 10 Minuten verschwunden. Später stellt sich heraus: Er wollte das Haus sehen, in dem er aufgewachsen ist, sein Elternhaus. Denn sonst kommt er aus der Ukraine ja nicht heraus. Diese Gelegenheit, nämlich dass er uns abholen durfte, muss er nutzen. Einmal mehr ist das ein Schlaglicht für die Situation.
Die Fahrt nach Tschornomorsk verläuft zügig, auch an der Grenze brauchen wir nicht allzu lange. "Welcome in Ukraine", ruft Fahrer Sergej. Und wir liegen uns schon wieder fast in den Armen. Bald sind wir in Tschornomorsk.
Noch auf der Fahrt durch die Stadt zeigt mir Ruslan Häuser, die getroffen wurden. Fenster waren weg, jetzt sind sie wieder ersetzt. Dann die Galerie der im Krieg Getöteten. Am Meer ist sie aufgebaut. Dann sind wir schon an der Schule. Werden erwartet vor der Schule. In der Schule von Kindern, Eltern, Lehrerinnen, der Schulleiterin. Sie feiern mich wie den Weihnachtsmann, einen Popstar, den reichen Onkel aus dem Westen. Ich soll was sagen. Kämpfe mit den Tränen. Ich sehe diese Dankbarkeit, die aus dem Herzen kommt. Auch gestern schon. Tschornomorsk hätte 14 Partnerstädte. Wir seien die einzigen, die sie besuchen würden. Und jetzt diese Dankbarkeit bei allen im Raum. Und ich weiß doch, was sie alle leisten, ertragen. Das ist so ungleich. Sie hätten den Beifall verdient. Was ist der Bus gegen das, was sie leisten.
Es wird ein Programm aufgeführt. Reden gehalten. Eine Schweigeminute gehört immer bei so einer Gelegenheit dazu. Da fließen Tränen. Bei Erwachsenen, aber auch bei Kindern. Ich ahne, woran sie denken. Es wird gesungen, getanzt, rezitiert.
Wie kann man diese Menschen nicht unterstützen wollen, frage ich mich. Zum Beispiel während der Schweigeminute, als die Uhr laut tickt, Sekunde für Sekunde. Während die Lehrerinnen tanzen. Während die Kinder mir eine Weihnachtskugel schenken, eine Seite für Wismar gestaltet, eine für Tschornomorsk. Während die Lehrerinnen singen mit allen zusammen, während die Schulleiterin spricht. Und als dann draußen vor der Tür eine Mutter auf mich zukommt, eine Mutter eines behinderten Kindes, das nunmehr durch den Kleinbus aus Wismar besser zur Schule transportiert werden kann, als diese Mutter zurückkommt, sich verbeugt. Nicht unterwürfig, sondern voller Dankbarkeit, aber auch voller Würde. Wie kann man diese Menschen nicht unterstützen wollen, frage ich mich wiederum.
Vor der Schule wird dann der Bus noch einmal vorgestellt. Ein Video wird gedreht. Die Mutter, die auf mich zukommt, erwähnte ich schon. Hier bekommen wir übrigens auch erst mit, dass das Musikprogramm in der Schule, zum Beispiel die Musikanlage, nur betrieben werden kann, weil im Bus der von Herrn Tilsen gestiftete Generator ist, der gleich in Betrieb genommen wird. Denn in der Zeit, in der wir da sind, ist der Strom abgestellt.
Wir fahren wieder los. Es geht jetzt zum Freizeitpark von Vassili. Igor, ein weiterer Stellvertreter von Vasyl Huliaev, fährt nach der Schule noch mit uns zu einem anderen Wohnblock. Auch dort waren, durch eine Detonation, durch einen Angriff der Russen, alle Fenster weg. Er zeigt voller Stolz, dass sie wieder drin sind. Dann fahren wir durch ein dunkles Gebiet. Blackout, sagt Fahrer Sergej. Es gab einen Treffer wohl vor Kurzem. Überall dieser Scheiß Krieg.
Bei Vassili sind wir zum Essen eingeladen. Olena dankt mir bei Tisch, Benjamin (Herr Leers) würde ihr ja öfter schreiben, wenn Tschornomorsk getroffen wurde, in meinem Namen. Ja, das ist das verdammt wenige, was wir tun können. Die Powerbanks schenken wir der Schule. Die Schulleiterin hat darob Tränen in den Augen. Den anderen Teil der Powerbanks möchte Olena einem Kinderheim geben. Ronny sagt gleich, das fände er gut … Ja, das ist gut. Es ist aber auch ein Symbol. Wenigstens das. Ja, aber nicht mehr.
Später bekommen wir von der Übergabe an die Kinder Bilder. Vasyl Huliaev ist dabei. Es sind Waisenkinder des Krieges. Ich muss wiederum schlucken, als ich diese Bilder sehe.
Wir essen wieder gemeinsam. Igor und ich unterzeichnen die Übergabeprotokolle und stempeln und siegeln sie, damit alles seine Ordnung hat. Der Bus gehört nun endgültig Tschornomorsk. Und dann geht es auch schon zurück nach Chișinău.
Abends im Hotel treffen wir uns alle wieder. Ronny, Benjamin Leers, aber auch Frieder Weinhold und Frank Brosig, die den Bus bis an die Grenze brachten. Wir erzählen uns von dem, was wir erlebten. Und wir sind sicher, vergessen werden wir nichts davon. Vor allem nicht diese tapferen Menschen.
Das nächste Projekt besprechen wir am Abend in Tschornomorsk beim Essen schon. Mobile Bunker, darum wollen wir uns jetzt kümmern. Und Frieder Weinhold weiß von einer Einzelspende zu berichten. Eine hohe Summe, die ebenfalls für die Tschornomorsker, nämlich für medizinische Zwecke, zur Verfügung gestellt wird. Das ist gut so. Diese tapferen Menschen, wo auch immer in der Ukraine, müssen weiter unterstützt werden.