Hilfsnavigation
Seiteninhalt
15.04.2019

Gedanken anlässlich der Bombardierung des Gotischen Viertels 1945

Wismars Bürgermeister Thomas Beyer hat auf der heutige Gedenkveranstaltung anlässlich der Bombardierung des Gotischen Viertels am 14./ 15. April 1945 folgende Rede gehalten:

"Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Gäste dieser Gedenkveranstaltung,

stellen Sie sich vor: Wir sind in den 2020er Jahren. Eines Nachts werden wir geweckt durch Explosionen. Wie aus dem Nichts! Am Morgen sehen wir, die wieder aufgebaute Georgen-Kirche ist eine Ruine.

Sie denken, nein, das ist nicht vorstellbar? Für die Menschen in Israel und Palästina, in Afghanistan - dort werden sie mit Drohnen angegriffen -, in der Ukraine ist es das schon.

Stellen Sie sich weiter vor, dass wir kurze Zeit später feststellen, es lebt fast kein Mensch mit Migrationshintergrund, kein Ausländer mehr in unserer Stadt. Sie wurden weggebracht. Heimlich. Nach und nach. Mit Zügen und LKWs. Viele tun so, als würden sie das gar nicht merken. Es gibt Gerüchte über Lager, darüber, dass die Ausländer umgebracht werden. Denn sie wurden verantwortlich gemacht für alles Übel, für wirtschaftliche Probleme, für den Krieg. Und sie werden als minderwertige Menschen betrachtet.

Wiederum später dröhnt es unglaublich über der Stadt, die Häuser beben. Dann fallen Bomben. Am Morgen sehen wir, von unseren Unternehmen ist nicht mehr viel übrig. Die Werfthalle steht noch als Torso, im Holzcluster brennt es lichterloh, Rücker wurde gezielt angegriffen, auch Schulen, zum Beispiel die neugebaute in der Bürgermeister-Haupt-Straße, liegen in Schutt und Asche.

Sie sagen, das sei einfach nicht vorstellbar? Nun, die Menschen im Irak sahen ihre Raffinerien brennen, das ist nicht lange her, und in Syrien wurden Fabriken zerstört, auch in Libyen ist Krieg. Rücksicht wird dort auf Schulen - wie auch in der Ukraine - nicht genommen.

Ich weiß, meine Damen und Herren, diese Zukunftsbilder, die ich eben skizziert habe, sind drastisch, und wir mögen das überhaupt nicht gern hören, am liebsten würden wir uns die Ohren zuhalten. Aber ist das wirklich so weit hergeholt? Wenn plötzlich Nationalismus wieder als akzeptabel gilt, in Ungarn zum Beispiel. Wenn einige - absolut nicht alle - britischen Politiker unglaublich leichtfertig und verantwortungslos eine Abstimmung auslösen, von der sie zwar profitieren wollen, aber deren Ziel, nämlich der Austritt aus der Europäischen Union, eigentlich nicht wirklich erreicht werden sollte. Und, wenn wir alle in der sogenannten westlichen Welt immer noch nicht begriffen haben, dass wir selbst sehr dazu beitragen, dass viele Menschen aus zum Beispiel afrikanischen Ländern sich auf die Flucht begeben.

Ist vor diesem Hintergrund wirklich alles so weit hergeholt? Ich meine, nein.

Wir denken heute an die Zerstörung des gotischen Viertels am Ende des Zweiten Weltkriegs, nämlich am 14./15. April 1945, und wir denken überhaupt an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und den verheerenden Nationalsozialismus in unserem Land und in unserer Stadt. Natürlich steht da die Erinnerung im Vordergrund. Die Erinnerung daran, dass St. Georgen und St. Marien Ruinen wurden, die Erinnerung an viele Tote, die Erinnerung daran, dass die wenigen Juden aus unserer Stadt längst weg waren, entweder geflüchtet oder umgebracht, die Erinnerung daran, dass auch Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen aus Wismar ermordet worden sind, die Erinnerung an eine schwer getroffene und teilweise zerstörte Stadt.

Aber Erinnerung allein ist nicht fruchtbar, wenn wir die heutige Zeit nicht mit bedenken würden. Für mich und meine Generation ist es nahezu unvorstellbar, im Bombenhagel leben zu müssen. Meine Eltern haben es erlebt und uns Kindern davon erzählt, das war sehr eindrücklich und bleibt unvergessen.

Wir hatten jetzt nahezu 75 Jahre in unserem Land Frieden. Das ist unendlich wertvoll. Aber das geschieht nicht von allein. Gerade heute nicht, wo wieder nationalistische Töne angeschlagen werden dürfen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren, wo wieder an militärischen Optionen gearbeitet wird, die als überwunden galten. Und wo Menschen gering geschätzt werden, weil sie aus nicht mehr erträglichen lebenswidrigen Verhältnissen geflohen sind.

Frieden geschieht nicht von allein, wir sind gefragt, uns einzubringen, uns deutlich zu positionieren. Zum Beispiel auch am 26. Mai zur Europawahl, wenn es um ein klares Votum für den Zusammenhalt in Europa, für die europäische Union einschließlich der Veränderungen, die uns weiter zusammenwachsen und unsere Verantwortung in der Welt wahrnehmen lassen, wenn es um ein klares Votum für all das geht. Da zum Beispiel sind wir gefragt, alle!

Und nicht nur da, das ist auch klar. Es wäre nämlich viel besser, wenn wir auch in den 2020er Jahren nicht um unsere Stadt, um unser Land, um all die Menschen, die hier mit uns leben, fürchten müssen.

Sankt Georgen, meine Damen und Herren, ist ein Symbol dafür, dass Krieg und Unmenschlichkeit zwar im Gedächtnis bleiben, aber auch überwunden werden können. Die Kirche trägt noch die Spuren und Narben der Zerstörung, sie werden auch bleiben. Aber St. Georgen ist auch ein Raum der Begegnung von vielen, vielen Menschen aller Religionen und Nichtreligiösen, von Menschen aller Herkunft und Hautfarben geworden, die sich hier bei vielfältigen Veranstaltungen versammeln. Auch das soll so bleiben!

Schön, dass Sie alle zu dieser Gedenkveranstaltung kommen sind.
Ich danke Propst Antonioli, dass er ebenfalls diese Erinnerungsstunde mit begleitet.
Ich danke Christian Thadewald-Friedrich für seine Musik.
Und allen, die die Veranstaltung vorbereiteten, meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sei ebenso gedankt.

Ich wünsche uns allen nun eine Gedenkstunde, in der die Erinnerung an Vergangenes fruchtbar gemacht werden kann für unseren klaren Blick in die Gegenwart und für unser Engagement in Gegenwart und Zukunft.
Vielen Dank"

Quelle: Pressestelle der Hansestadt Wismar